Therapeutische Anwendungen von BoNT
BoNT ist in Deutschland für verschiedene Indikationen zugelassen. Diese umfassen die Krankheitsbilder der Dystonie, Spastik der oberen und unteren Extremitäten bei Kindern und Erwachsenen, die chronische Migräne, neurogene Blasenstörung und die Hyperhidrosis axillaris. Die Zulassungen für die einzelnen zugelassenen Präparate unterscheiden sich. Hierzu verweisen wir auf die jeweils gültige Fachinformation der Präparate.
Informationen und Krankheitsbilder:
Der Begriff Dystonie bezeichnet ein Syndrom unwillkürlicher Muskelkontraktionen mit resultierender tonischer Fehlhaltung mit oder ohne repetitive tremolöse oder irregulär phasische Bewegungen.
Die Klassifikation von Dystonien sollte auf zwei Achsen erfolgen. Auf der Achse 1 nach den klinischen Charakteristikaund auf Achse 2 nach der Ätiologie der Dystonie. Bei dieser Klassifikation werden die früher verwendeten Begriffe der primären oder reinen Dystonien durch isolierte Dystonien (Dystonie als einziges Symptom abgesehen von begleitendem Tremor), Dystonie-plus Syndrome durch kombinierte Dystonien (Dystonie in Kombination mit anderen Bewegungsstörungen) und heredodegenerative Dystonien durch komplexe Dystonien (Dystonie in Kombination mit anderen neurologischen Erkrankungen oder Organsystemen) (Albanese A, et al.. 2013)
Bei allen fokalen Dystonien ist die lokale Behandlung mit Botulinum-Toxin Typ A die Therapie der ersten Wahl.
Zervikale Dystonie
Eine BoNT wird in der DGN Leitlinie als First Line Therapie der zervikalen Dystonie empfohlen (Empfehlungsgrad A) (Ip et al 2021). Die Wirksamkeit und Sicherheit von Botulinum Toxin Typ A (BoNT-A) bei zervikaler Dystonie konnte in mehreren randomisierten und kontrollierten Studien nachgewiesen werden [Truong 2005, Brashear 1999, Brin 2008, Brashear 2012, Fernandez 2013, Mordin 2014].
Die wichtigsten Faktoren für ein gutes Ansprechen sind korrekte Muskelauswahl und adäquate BoNT-Dosierung. Eine Injektionskontrolle mittels EMG oder Ultraschall kann im Falle von Problemen bei der Muskelidentifikation mittels Palpation hilfreich sein [Nijmeijer 2012].
Es besteht eine klare Dosis-Nebenwirkungsbeziehung hinsichtlich der Häufigkeit und Schwere von Nebenwirkungen (Costa 2005). Die häufigsten Nebenwirkungen von BoNT sind Schwäche der Nackenmuskulatur, Dysphagie, trockener Mund/Halsschmerzen und Stimmveränderungen/Heiserkeit.
Blepharospasmus
Der Blepharospasmus stellt eine der häufigsten Indikationen für den Einsatz von Botulinumtoxin dar. Ein Blepharospasmus imponiert meist als unwillkürlicher, intermittierend kräftiger Lidschluss. Daneben kann der tonische Blepharospasmus und der Lidöffnungs-Inhibitions-Typ (Lidapraxie) abgegrenzt werden. Die Störung kann zu einer funktionellen Blindheit führen.
Die Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT-A bei Patienten mit Blepharospasmus konnte in mehreren randomisierten und kontrollierten Studien mit einer hohen Effektstärke nachgewiesen werden, ca. 90% der behandelten Patienten sprechen auf die Therapie an [Costa 2005, Roggenkämper 2006, Truong 2008, Jankovic 2011] (Empfehlungsgrad A).
Das Risiko der Antikörperentwicklung gegen BoNT scheint in dieser Indikation geringer, was vermutlich an den geringeren Dosierungen liegt (Albrecht 2019). Es besteht eine klare Dosis-Nebenwirkungsbeziehung hinsichtlich der Häufigkeit und Schwere von Nebenwirkungen. Die häufigsten Nebenwirkungen von BoNT sind transiente Ptose, passagere Diplopie, vermehrtes Augentränen und Hämatome an der Einstichstelle. Die Nebenwirkungen sind in der Regel mild und klingen innerhalb von 2 Wochen meist vollständig ab (Fahn 1985, Elston 1992, Berardelli 1990, Jankovic 2011, Truong 2013).
Oromandibuläre Dystonie
Klinisch ist bei der oromandibulären Dystonie (OMD) die Kieferschlussdystonie von der Kieferöffnungsdystonie zu unterscheiden.
BoNT ist nicht zur Behandlung der OMD zugelassen, die Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT-A bei Patienten mit Kieferschlussdystonie und Kieferöffnungsdystonie konnte allerdings in mehreren unkontrollierten Studien gezeigt werden (Jankovic 1988, Blitzer 1989, Hermanowicz 1991, Van Den Bergh 1995, Tan 1999, Bhattacharyya 2001, Laskawi 2001, Sinclair 2013) (Empfehlungsgrad B). Die Kieferschlussdystonie zeigt ein besseres Ansprechen auf BoNT als die Kieferöffnungsdystonie, bei letzterer ist auch häufiger mit passageren Nebenwirkungen im Sinne einer Dysarthrie und/oder Dysphagie zu rechnen (Jankovic 1988, Blitzer 1989, Hermanowicz 1991, Tan 1999, Bhattacharyya 2001, Sinclair 2013).
Spasmodische Dysphonie
Klinisch ist bei der spasmodischen Dysphonie (SD) die SD vom Adduktortyp mit gepresster Stimme und die SD vom Abduktortyp mit hauchender Stimme zu unterscheiden.
BoNT ist nicht zur Behandlung der OMD zugelassen, die Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT-A bei Patienten mit SD vom Adduktortyp wurde allerdings in einer randomisierten und kontrollierten Studie (Truong 1991) sowie in mehreren und zum Teil größeren unkontrollierten Serien gezeigt (Maloney 1995, Blitzer 1998, Brin 1998, Courey 2000, Langeveld 2001, Watts 2006, Watts 2008) (Empfehlungsgrad A).
Die Injektionsbehandlungen können unilateral oder bilateral durchgeführt werden, eine direkte Vergleichsuntersuchung konnte keine Überlegenheit der bilateralen gegenüber der unilateralen Injektion zeigen (Adams 1995). Die durchschnittlichen Besserungsraten bei der SD vom Adduktortyp liegen zwischen 70-95% (Blitzer 1998, Brin 1998, Fulmer 2011). Die Wirkdauer liegt bei Patienten mit SD vom Adduktortyp bei 12-16 Wochen (Blitzer 1998). Als passagere Nebenwirkungen können milde Dysarthrie und Dysphagie sowie kleine Hämatome an der Injektionsstelle beobachtet werden (Truong 1991).
Die Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT bei SD vom Abduktortyp ist unzureichend. Unkontrollierte Serien berichten einen geringeren Effekt und eine kürzere Wirkdauer der BoNT-Therapie bei SD vom Abduktortyp im Vergleich zur SD vom Adduktortyp; als mögliche Nebenwirkung von BoNT bei SD vom Abduktortyp wird milder Stridor berichtet (Blitzer 1992, Blitzer 1998).
BoNT Injektionsbehandlungen bei spasmodischer Dysphonie sollten ausschließlich kontrolliert (EMG oder Laryngoskopie) durchgeführt werden, wobei kein Hinweis für die Überlegenheit einer Methode gegenüber der anderen besteht (Galardi 2001). Die BoNT Therapie der Patienten mit spasmodischer Dystonie sollte interdisziplinär erfolgen.
Schreibkrampf und Musikerkrampf
Die Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT-A bei Patienten mit Schreib- und Musikerkrampf konnte in mehreren randomisierten und kontrollierten Studien nachgewiesen werden [Poungvarin 1991, Tsui 1993, Jankovic 1993, Cole 1995, Wissel 1996, Lim 2006, Kruisdijk 2007] (Empfehlungsgrad A).
Das heterogene klinische Spektrum und die hohen Anforderungen an eine optimale Koordination der Handmotorik resultieren jedoch in einer deutlich geringeren Effektstärke von BoNT bei Schreib- und Musikerkrampf im Vergleich zu craniozervikalen Dystonien. In Langzeituntersuchungen brechen ca. 50% der Patienten aufgrund unzureichender Wirkung oder aufgrund lokaler Nebenwirkungen die BoNT-Therapie ab (Schuele 2005, Kruisdijk 2007, Jankovic 2013).
Es besteht eine klare Dosis-Nebenwirkungsbeziehung hinsichtlich der Häufigkeit und Schwere von Nebenwirkungen. Häufig tritt eine die Finger- und Handmotorik kompromittierende mehrwöchige Schwäche nach lokaler BoNT Injektion auf (Wissel 1996, Schuele 2005, Kruisdijk 2007).
Es existieren keine kontrollierten Vergleichsstudien zwischen palpationsbasierter und apparategestützter BoNT – Injektionsbehandlung im Hinblick auf Wirksamkeit, Wirkdauer oder Nebenwirkungen bei Patienten mit Schreib- oder Musikerkrampf. Zur Injektionskontrolle können entweder EMG, lokale Elektrostimulation oder Sonografie verwendet werden. Eine offene Vergleichsstudie konnte keinen Unterschied im Behandlungsergebnis zwischen Elektrostimulations- und EMG-gesteuerter BoNT-Injektion nachweisen (Geenen 1996), in der klinischen Routine hat sich die Ultraschall-gestützte Injektion in den meisten Zentren durchgesetzt.
Erstattungsfähigkeit der Behandlung mit BoNT Typ A bei aufgabenspezifischen Dystonien
Seit einigen Jahren besteht eine Erstattungsfähigkeit der Behandlung bei aufgabenspezifischen Dystonien mit BoNT Typ A. Dies wurde in einem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschuss geregelt (Banz 14.01.2021 B3)
Beim Hemispasmus facialis handelt es sich um unwillkürlich einschießende, meist einseitige Kontraktionen der mimischen Muskulatur durch eine Kompression des N. facialis unmittelbar nach Austritt aus dem Hirnstamm und somit nicht um eine Dystonie.
Trotz der verschiedenen zufriedenstellenden therapeutischen Ansätze (Dekompressions-operation nach Janetta, membranstabilisierende Medikamente, v.a. Carbamazepin) beim Hemispasmus facialis, darf wegen der großen therapeutischen Sicherheit und einer Erfolgsrate von über 90 % die Botulinumtoxinbehandlung als Therapie der Wahl angesehen werden.
OnabotulinumtoxinA (Botox®) ist in Deutschland seit 2011 zur Behandlung der chronischen Migräne zugelassen, wenn die Patienten*innen auf andere prophylaktische Migränemedikation nur unzureichend angesprochen oder diese nicht vertragen haben.
Die Diagnosekriterien einer „chronischen Migräne“ sind erfüllt, wenn die Patient*innen über einen Zeitraum von > 3 Monaten an ≥ 15 Tagen/Monat an Kopfschmerzen leiden und davon mind. 8 Tage mit Migräne, mit oder ohne Medikamentenübergebrauch. Dies führt zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität.
Inzwischen liegen Untersuchungen und Studien aus verschiedenen Institutionen und Ländern mit „Real-World-Daten“ aus dem klinischen Alltag und zur Langzeitanwendung vor. Dabei zeigt sich, dass die Therapie effektiv und gut verträglich ist, wenige Nebenwirkungen hat und sogar einen positiven Einfluss auf depressive Symptome hat. Die Injektionen erfolgen ca. alle 3 Monate in 31 – 39 Punkten der Stirn-, Schläfen- und Nackenmuskulatur, gemäß dem Injektionsschema der PREEMPT Studie, welche zur Zulassung in dieser Indikation geführt hat.
BoNT ist zur Behandlung der Spastik im Kindesalter und Erwachsenenalter zugelassen. Die Zulassung der verschiedenen Präparate unterscheiden sich (siehe jeweils aktuelle Fachinformationen). Zur Behandlung der Spastischen Bewegungsstörung (SMD) ist ein multimodales und interdisiplinäres Konzept notwendig, wobei neben Physiotherapie, Ergotherapie, Orthopädietechnik und ggf. chriurgische Interventionen BoNT nur einen der Bausteine der Therapie darstellt.
BoNT verbessert durch seine spannungsredizierende Wirkung auf die fokale Spastik im Arm die Integrierbarkeit des schwer spastisch gelähmten Armes im Alltag und bei einem Teil der Patienten auch aktive Hand- und Armfunktionen; am Bein kann eine effektive Tonusreduktion u.a. bei Adduktorenspastik und spastischem Equinovarus erreicht werden. Parallel an Arm und Bein zur Spastikbehandlung eingesetztes BoNT war in höheren Dosierungen sicher und wirksam. Eine adjuvante zur BoNT Behandlung eingesetzte Cast-Behandlung und neuromuskuläre Elektrostimulation verstärken den Wirkeffekt von BoNT auf die Spastik (DGN Leitlinie Spastisches Syndrom).
Sialorrhoe, ein unkontrollierter, übermäßiger Speichelfluss aus dem Mund und in den Schlund, tritt als Begleitsymptom bei verschiedenen, v. a. neurologischen Erkrankungen im Kindes- und Erwachsenenalter auf. Die Sialorrhoe führt zu einer deutlichen stigmatisierung und kann zu erheblichen Folgeproblemen wir Hautaffektionen und Pneumonien führen. Mit BoNT (siehe aktuelle Fachinformationen) steht seit 2019 ein zugelassenes Medikament für die Behandlung der Sialorrhoe zur Verfügung.
Neben o.g. Indikationen, wird BoNT in der Augenheilkunde z.B. zur transienten Behandlung bei Strabismus oder zur Induktion einer Ptosis bei Lagophthalmus oder bei nicht operablem Unterlidektropium eingesetzt.
Eine vermehrte fokale Schweißneigung ist relativ häufig und wird als Hyperhidrosis bezeichnet. Sie betrifft meist Hände, Füße und Achselhöhlen. Junge Menschen sind eher betroffen. Die Ursache ist ungeklärt, eine familiäre Häufung wird beschrieben.
Patienten mit Hyperhidrosis haben oft einen erheblichen Leidensdruck.
Die meisten therapeutischen Ansätze sind unwirksam oder mit erheblichen Nebenwirkungen belastet. BoNT ist hierbei eine sehr hilfreiche und relativ nebenwirkungsarme Alternative. BoNT in einer Formulierung ist unter beschriebenen Umständen zur Behandlung der Hyperhidrosis axillaris zugelassen (aktuelle Fachinformationen)
Es wird eine geringe Dosis von 1,25 bis 2,5 E. Botox pro Injektionstelle im Bereich der behaarten Haut intracutan. Durch BoNT wird nur die Aktivität der ekkrinen Schweißdrüsen reduziert, die apokrinen Drüsen bleiben unbeeinflusst, d.h. die Geruchsentstehung ist weiterhin möglich. Die Wirkung setzt nach einigen Tagen ein (meist 4 bis 7 Tage) und hält meist für mehrere Monate an (meist 4 bis 6 Monate).
Eine erhöhte Schweißneigung an Händen und Füßen ist schwerer zu behandeln und es besteht keine Zulassung. Die die Injektion in diesen Bereichen ist wesentlich schmerzhafter, aber auch wirksam.
Eine sinnvolle Indikation kann die Injektion des Toxins in den Blasensphinkter bei der Detrusor-Sphinkter-Dysergie (z.B. Querschnittslähmung, Multiple Sklerose) und bei Harnentleerungsstörungen einer Neo-Blase sein. In der Gastroenterologie sind gute Erfolge bei der Achalasie und dem diffusen Ösophagusspasmus beschrieben. Weiterhin kann das Präparat bei der Analfissur, beim spastischen Beckenboden und beim Anismus Einsatz finden.
Daneben wurden mittlerweile gute Ergebnisse bei einer Vielzahl weiterer Indikationen gefunden. Exemplarisch seien die oromandibuläre Dystonie (v.a. Kieferschließungsdystonie), laryngeale Dystonie, bzw. spasmodische Dysphonie (Adductor-Typ, Abductor-Typ), Gliederdystonie (z.B. Schreibkrampf), Fußdystonie (häufig beim Parkinson-Syndrom), dystoner Tremor, Dyskinesien, chronischen Schmerzzuständen, postoperative Ruhigstellung verschiedener Muskelgruppen, “Krokodilstränen” und gustatorisches Schwitzen genannt.
Selbsthilfegruppen für verschiedenste Erkrankungen können Sie hier finden:
Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen
www.nakos.de/informationen/basiswissen/selbsthilfegruppen